Eigentlich öffnete ich die Alkoholfrei-App gerade nur aus Langeweile, denn Tage oder Wochen zählte ich schon lange nicht mehr. Und da stand es: 9 Monate alkoholfrei. Ganz ohne Schwangerschaft, bevor jemand diese Zahl fehlinterpretiert.
Auf diesen Tag habe ich gewartet. Weil ich eine Karte mit „Nine Months No Chardonnay“ abfotografiert hatte – für diesen Moment. Fand ich witzig. Ist schon klar, dass die Karte für einen anderen Anlass produziert wurde, aber trotzdem.
Ich höre kurz in mich hinein: Keine Freude, keine Trauer, kein Stolz, kein bisschen. Einfach nur „Ok“.
Aber vielleicht ist es doch mal Zeit zu reflektieren.
FYI: Warum ich überhaupt den Platz vor’m Weinregal verlassen habe, steht hier unter “Wie es dazu kam”.
Was hat sich verändert, seitdem ich keinen Alkohol mehr trinke?
Nichts. Also so gut wie nichts.
Außer, dass es mir insgesamt deutlich besser geht und ich, oder vielleicht weil ich, signifikant besser schlafe. Und: Ich bin einfach immer fit. Und mental? Unstoppable, denke ich manchmal. Selbstsicherer auch.
Und frei. Das hört sich super weird an, ich weiß, ist aber so. Frei fühlen kam irgendwann und ist jetzt zur Normalität geworden, darum ist es mir nicht als Erstes eingefallen. Ich hätte mich auch früher nicht als unfrei beschrieben, darum ist es etwas komisch, das zu fühlen (und vor allen Dingen zu schreiben). Ich habe auch vor einem Jahr aufgehört zu rauchen, was mit Sicherheit zu diesem Gefühl beiträgt.
Aber ich hatte mir das anders vorgestellt: Wein/Alkohol war doch so ein wichtiger, annähernd täglicher Bestandteil meines Lebens. Darum dachte ich, dass mein Alltag, meine Freundschaften, mein Leben sich extrem verändern würden.
Vielleicht muss ich das Thema anders angehen … vielleicht eher: Wovor hatte ich Angst und was ist daraus geworden?
Ok, ich komm’ noch mal rein.
Befürchtung 1: Ich werde langweilig.
Nope, alles super. Die Momente, die aussehen wie Stock-Fotos, in denen meine Entourage und ich Tränen lachen, finden weiterhin statt. Nur, dass ich dabei jetzt alkoholfreien Wein, Wasser, Kaffee oder so etwas trinke.
Man sagte mir immer nach, dass Abende mit mir lustig wären und da diese ja immer mit Weinbegleitung stattfanden, bekam ich Angst, dass sich das vielleicht ändert, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke.
Nach neun Monaten und zahlreichen Partys, Festivals und Treffen mit unterschiedlichen Leuten und in verschiedenen Situationen halte ich fest: Es ist nicht der Alkohol, sondern die Runde von Leuten, die den Abend macht.
Befürchtung 2: Ich werde richtig ätzend und fange an, andere zu belehren.
Nee, ist nicht der Fall. Wenn Leute mich fragen, warum ich nicht mehr trinke, erzähle ich offen, dass ich für Genuss in Maßen nicht gebaut war und Angst hatte, zur Alkoholikerin zu werden. Und dass ich monatlich ein, zwei Filmrisse hatte und ich das für Mitte (fast Ende) 30 nicht nur peinlich fand, sondern auch beängstigend. Aber ich freue mich für alle, die das mit dem Alkohol besser können als ich, darauf: Prost.
Ich bin übrigens sehr d’accord damit, dass Leute mich nach meinen Gründen fragen und sehe es nicht als Rechtfertigung, sondern als Interesse an dem Thema oder –je nach Frage– an meiner Person. Irgendwann ist dann aber auch gut, so spannend ist das Thema ja nun auch nicht.
Befürchtung 3: Ich neige zu Extremen und fange doch wieder an und dann läuft es richtig, richtig aus dem Ruder.
Anfangs vermisste ich Alkohol in Alkoholsituationen. Und davon gab es früher viele. So fand ich z. B., dass man ab 15 Uhr keinen Kaffee mehr trinken sollte – das Koffein hält einen sonst die ganze Nacht wach. Da kam ein Glas Wein immer sehr gelegen. Leute treffen, essen gehen … es gab eigentlich mehr Wein- als nicht-Wein-Situationen. Getreu dem Motto „Zu Vino sag’ ich nie No“.
Als ich dann zu Vino No sagte, begann ich, mich durch die alkoholfreien Alternativen zu trinken. Alkoholfreie Weine können schmecken, schmecken aber eben nicht wie alkoholhaltige Weine. Zeitweilig vermisste ich den Geschmack. Dann gewöhnte ich mich an alkoholfrei und jetzt weiß ich gar nicht, ob mir alkoholhaltige Weine überhaupt noch schmecken würden.
Dann merkte ich, wie ein paar stressige Situationen an mir rüttelten, und ich an dem ein oder anderen Abend dachte: Lass es 18 Uhr werden und 2 Flaschen Rot bestellen. Denn ja, Alkohol half, wenn die Welt zu viel war und die Welt war häufig zu viel. Ich wollte mich einfach mal wieder für einen Abend abmelden, die Leichtigkeit des Seins fühlen oder Probleme nicht in voller Fülle spüren müssen. Ich vermisste also nicht den Geschmack, sondern den Rausch.
Abschütteln, weitermachen.
Auch dieses Verlangen verließ mich schnell. Es ist schwierig zu erklären, aber ich brauchte das Pflaster, den Weichspüler oder wie man Alkohol in diesen Situationen nennen möchte, nicht mehr.
Früher half es mir, zu trinken. Heute hilft es mir, nicht zu trinken. Mein Kopf ist klarer, ich sortiere und bewerte Situationen oder Probleme anders und dann kann es weitergehen.
Befürchtung 4: Ständig werden Leute versuchen mich zu bequatschen, doch wenigstens ein Glas mitzutrinken.
Nicht. Ein. Einziges. Mal.
Niemand hat versucht mich zu bequatschen, Leute finden es entweder faszinierend und bewundernswert oder kommentieren es gar nicht.
Und ganz ehrlich: Ich würde mir die Diskussion eine Minute lang geben und dann gehen. Ist doch meine Sache, was ich trinke. Und: So ist für alle anderen mehr da.
Befürchtung 5: Ich stehe dann da alleine mit meinem Wässerchen in der Ecke. Das wird eine einsame Sache.
Nicht der Fall. Auf Privatpartys bringe ich mir gerne ein paar alkoholfreie Alternativen mit: alkoholfreien Gin, Wein oder Sekt ohne Umdrehungen oder so. Jedes Mal kommt mindestens eine Person auf mich zu, die entweder kaum noch oder gar keinen Alkohol mehr trinkt, mit dem Auto fährt, Medikamente nimmt, morgen früh rausmuss, oder schwanger ist. Häufig wollen Leute auch einfach mal probieren, zu häufig haben Leute aus Versehen meine alkoholfreien Alternativen eingeschenkt und erst durch Hinweis oder nach der Hälfte gemerkt, dass sie dieses Getränk nicht an ihr gewünschtes Ziel bringen wird.
Ich hatte Angst, Außenseiterin zu werden und als langweilig abgestempelt zu werden und vielleicht sogar als Störfaktor gesehen zu werden. Ist alles nicht eingetreten. Niemand hat sich abgewendet, keiner findet mich komisch. Ich glaube, am Ende ist es allen ziemlich egal. Und das sollte es auch.
Befürchtung 6: Ich bekomme nirgendwo was außer Limo und so.
AF in SF (Alkoholfrei in San Francisco) ist ein Spaziergang – in der Sonne: Alkoholfrei ist gar kein Problem. Auch in Austin (Texas) gab es einiges zu probieren. Berlin hat eigene Läden für alkoholfreie Alternativen (Nüchtern.Berlin und Mindfuldrinking.Club), in Hamburg hat der erste Store eröffnet und in Düsseldorf gibt es hier und da auch was im Supermarkt. Alkoholfreies Bier finde ich in jedem Club und wenn es mal eine Cola sein muss, dann ist es so. Long story short: Alles durchaus machbar und ich stelle mit Freude fest, dass es immer mehr wird und alkoholfreie Cocktails auf vielen Getränkekarten zu finden sind.
Und weil die Zahl im Screenshot steht: Wie kommt eine Summe von fast 3.000 Euro in 9 Monaten bitte zustande?
Bevor man fragt, ob ich in Schaumwein gebadet habe, hier eine ganz einfache Rechnung (Zahlen auf- und abgerundet):
3.000 Euro : 9 Monate = 333 Euro pro Monat
333 Euro pro Monat : 4 Wochen = 83 Euro pro Woche = 12 Euro pro Tag
Wer immer noch denkt: Huch! Dat is aber … Ei Ei Ei … na ja. Ein Gin Tonic kostet mindestens 8 Euro, eine Flasche Wein im Weinhandel geht bei 10 Euro los – und das ist die Arbeit auf dem Weinberg auch wert. Es ist also für eine Person, die gerne viel unterwegs ist und den Alkohol nicht scheut, keine große Kunst, am Abend mindestens 12 Euro auszugeben, wenn man sich nicht nur von Späti-Bier ernährt. Und selbst, wenn man das mal ein, zwei Tage auslässt, geht man einmal Essen und bestellt noch mal ein, zwei Flaschen dazu … es geht sehr schnell und sehr einfach.
Und wer glaub, alkoholfreie Alternativen wären günstiger, den muss ich enttäuschen: Alkoholfreier Wein wird in der Regel wie herkömmlicher Wein hergestellt und dann entalkoholisiert. Also mehr Schritte, folglich: teurer. Auch dazu an anderer Stelle mehr.
Warum fällt es mir nach so einer Trinkkarriere so leicht, nicht mehr zu trinken?
Immer wieder sagen mir Leute, dass ich den höchsten Respekt verdiene, dass sie das nicht schaffen würden usw. usf. Und vor einem Jahr hätte ich das Gleiche gesagt. Then again: Frauen machen ständig neun Monate Trinkpause.
Ich glaube, es fällt mir so leicht, weil ich ja jederzeit wieder anfangen kann, wenn ich will. Ich habe es mir nicht verboten, weil ich weiß, dass ich auf „Du darfst nicht“ mit „Ich will aber“ reagiere. Also mache ich das Gegenteil: Ich sage mir „Du darfst“ und reagiere mit „Ich will aber nicht“.
Ich kann also jederzeit überall sofort ein Glas bestellen, ohne mich schlecht zu fühlen, ohne ein innerliches Gesetz zu brechen. Wieder Alkohol zu trinken, wäre kein Zeichen von Rebellion oder gar Emanzipation. Ich will nur einfach nicht.
Was mir gesellschaftliche und psychologische Zusammenhänge erklärt und schlichtweg die Augen geöffnet hat, ist das Buch “Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen” von Eva Biringer (Affilate). Auch wenn ich es für mich nicht mehr brauche, ich verleihe es nicht, weil es mir so viel bedeutet, es Zuhause zu haben. Es hat mich in einer der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens begleitet und unterstützt. Es ist vielleicht das wichtigste Buch, das ich jemals gelesen habe. Wer das eigene Trinkverhalten hinterfragt, sollte dieses Buch lesen. Wer das eigene Trinkverhalten nicht hinterfragt, auch. Es holt ab und tadelt nicht, belehrt nicht. Die Autorin teilt ihre eigene Geschichte und ergänzt mit historischen Bezügen, Literatur, Studien und Statistiken.
Es nimmt mit und in den Arm und lässt los und allein entscheiden, wie man weitermachen will. Man ist nur einfach so viel schlauer als vorher.
Jetzt langsam mal zum Ende kommen:
Ich bin glücklich mit der Person, die ich jetzt bin, und dem Leben, wie ich es führe. Und ich sehe keinen Grund, mein Trinkverhalten zu ändern: weder für einen Abend noch für ein Glas. Es reizt mich nicht der Geschmack und auch nicht der Rausch. Einmal wünschte ich, ich hätte schon früher aufgehört, aber alles hat und braucht seine Zeit. Das waren die Jahre mit Alkohol, jetzt kommen die ohne.
Nach Nine Month No Chardonnay werde ich die Alkoholfrei-App jetzt löschen. Ich brauche sie nicht mehr, denn weitere Postkarten zu dem Thema habe ich nicht fotografiert.